Mann in der Blüte

Das Bild mit dem alten Mann an der Straßenlaterne sehe ich noch genau vor mir. Ich lehnte an einer Hauswand, in der Sonne, einen Kaffee in der Hand. Er schlurfte, mit vorsichtigen Schritten, an mir vorbei. Ich hatte gerade mit einem Nachbarn ein Gespräch darüber geführt, dass der Beginn der Kirschblüte zu einer anderen Atmosphäre in der Straße führt. Magischerweise beginnt das schon, bevor die Blüten sich wirklich öffnen. Die Menschen bewegen sich anders, langsamer, alles hält ein wenig an. Sie sind nicht unterwegs, sie haben kein Ziel. Sie sind hier, um hier zu sein. In dieser Straße, im Frühling. Dieses Langsamwerden legt eine wohltuende Ruhe in die Straße. Jeder bemerkt es und hält selbst ein wenig an. Selbst die, die es eigentlich eilig haben, fühlen es und schauen kurz hoch. Es ist die Zeit des Flanierens.
Seine Bewegungen sind besonders langsam, wie in Zeitlupe. Er ist alt, sehr alt, die vorsichtigen, tastenden Bewegungen zeigen es. Auf Höhe des kleinen Platzes hält er an, neben der Gaslaterne – und kippt in einer kleinen seitlichen Bewegung gegen sie. Fast nicht sichtbar, nur eine kleine, vertikale Neigung seiner Achse. Die Lavasteinpodeste um das kleine Denkmal sind besetzt mit Passanten, deshalb kann er sich nicht setzen. Er will den Anblick eine Weile genießen, offenbar wäre ihm das im Stehen ohne Halt nicht möglich. Mich rührt diese kleine Szene. Wie er es sich dennoch möglich macht. Wie unauffällig er das löst, es sieht fast zufällig aus. Ich hatte die perfekte Position für ein Foto, aber nichts dabei, um ein Foto zu machen. Ich sah die Szene von schräg hinten, ihn, wie er an der Laterne lehnt und die Vorfrühlingsszene anschaut, und die Straßenszene selbst.
Ich sehe seine Silhouette, mit der leichten Achsenneigung nach rechts. Seine Schulter lehnt am Gusseisen der Laterne. Er hat seine Sonntagsjacke an, aus sandfarbener Popeline, frisch gebügelt, jedenfalls faltenfrei. Seine Hose ist auch sandfarben, aber zwei Töne heller. Der Stoff seines rechten Hosenbeines hat sich hinten in seinem schwarzen Schuh verfangen. Das verleiht seinem Anblick etwas Unsymmetrisches, die zu der leichten Neigung seiner Vertikalachse passt. Auf dem Kopf trägt er eine Schiebermütze, ebenfalls sandfarben, einen halben Ton heller als die Hose. Er hat sich fein gemacht, zweifellos. Hinter den Ohren sind die Bänder der Maske sichtbar, die er sich unter das Kinn gezogen hat, um den Moment in der Sonne ohne Maske genießen zu können. Er hat zwei Jahre Pandemie hinter sich gebracht, und jetzt lehnt er an einer Straßenlaterne, um den Beginn der Kirschblüte zu genießen.
Nach einigen Minuten löst er sich von der Laterne, sammelt sich in der Vertikalen und geht weiter, mit seinen tastenden Schritten den Bürgersteig entlang. Nach wenigen Schritten hält er wieder an, auf einem kleinen Hügel, einer kaum sichtbaren Erhebung im Bürgersteig. Die Betonplatten werden an dieser Stelle abgewechselt von kleinteiligem und unebenem Kopfsteinpflaster, dort, wo rechts zur Straße hin einer der Kirschbäume steht. Die Wurzeln haben den Bürgersteig ein wenig angehoben und das Kopfsteinpflaster hat sich der Bewegung von unten angepasst. Diese Erhebung im Bürgersteig fällt kaum auf, hält niemanden auf, eigentlich, aber er, der alte Mann, mit den vorsichtigen, tastenden Schritten, scheint auf dieser kleinen Erhebung festzuhängen. Ich sehe es von hinten. Er wird langsamer und bleibt oben stehen, als fehle ihm die Kraft, diesen minimalen Scheitelpunkt zu überwinden, als wäre diese kleine Erhebung unüberwindlich.
Er hält oben an und ich halte den Atem an, vielleicht ist das alles doch zu viel für ihn. Vielleicht hat er sich doch zu viel zugemutet. Bis er dann doch, auf der Höhe der Erhebung, sich sammelt und wieder in Bewegung kommt, sich langsam wieder in Bewegung setzt und vorsichtig weitergeht, Schritt für Schritt. Diese Straße entlang. Dieses Leben entlang.


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2 Gedanken zu „Mann in der Blüte“

  1. Scheeeen. ❤️ ..auch schöner als ein Foto davon. Ich freu mich schon wieder darauf.Dann trinken wir einen Kaffee auf der Straße.

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