Schule ist unser halbes Leben! Welche Rolle spielt die Schule für eine digitale Gesellschaft?

Goethe in Weimar

„Schule ist doch unser halbes Leben!“, sagte ein Schüler während eines Gesprächsabends zum Thema „Medienresilienz in der Schule“, bei dem ich zu Gast war. Das war seine Antwort auf die Frage, ob Digitalisierung überhaupt ein Thema für die Schulen sein sollte. Oder ob es eher in der Verantwortung der Elternhäuser liegt, die jungen Leute zu einem verantwortlichen und produktiven Umgang mit digitalen Medien zu begleiten. Es waren Schülerinnen und Schüler da, Eltern und Lehrkräfte, ich hatte aus meinem Buch1 gelesen. Sie – wir – sprachen so angeregt miteinander, dass nach zweieinhalb Stunden der Abend sanft beendet werden musste, sonst hätten sich alle wohl noch lange weiter unterhalten. Die Eltern waren überrascht, welche Herausforderungen die Lehrer haben. Die Schüler waren überrascht, welche Fragen die Eltern bewegen. Und alle waren überrascht wie differenziert die Schülerinnen und Schüler das Thema „digitale Medien“ sehen. Kommunikation ist ein Wundermittel – und sobald man sich Raum und Zeit nimmt, entfaltet sie ihre Wirkung: Im Austausch miteinander können wir uns klar darüber werden, was Digitalisierung für unseren Lebens- und Schulalltag bedeutet, was wir uns wünschen, wie es sein sollte. Wo wir mit unserer Digitalisierung überhaupt hinwollen.

„Schule ist doch unser halbes Leben“, das hat mich sehr berührt, und ich denke die anwesenden Lehrkräfte auch. Natürlich lernen Kinder in erster Linie in ihren Elternhäusern, wie sie mit der Welt (auch der digitalen) umgehen. Aber sehr, sehr viel Zeit verbringen sie eben auch in den Bildungseinrichtungen, in Schulen, in Kindergärten und andern Einrichtungen. Das ist eine große Verantwortung, der sich diese Einrichtungen immer bewusster werden. 

Ich stimme den jungen Leuten also zu, dass Digitalisierung und Medienresilienz an die Schulen gehört. Und zwar aus folgenden Gründen:

  • Erstens können sich die Kinder und Jugendlichen ihre Elternhäuser nicht aussuchen. Und wenn wir Bildungsgerechtigkeit, Chancengleichheit und Teilhabe auch nur halbwegs ernst meinen, dann können wir einen so wichtigen Faktor wie Digitalisierung nicht aus den Schulen ausschließen. Alle Schülerinnen und Schüler verlassen die Schulen in eine digitale Gesellschaft, ob wir das gut finden oder nicht. Ihnen für ihren Weg in das Leben in eine digitale Gesellschaft nicht zumindest ein Mindestrüstzeug mitzugeben, ist eine vertane Chance. Es geht auch ohne. Aber da draußen wartet eine Welt voller Algorithmen und Fehlinformationen, und dafür sollte Ihre Schülerschaft gewappnet sein.
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  • Ich weiß, das deutsche Bildungssystem ist nicht gerade ein Hort größter Gestaltungsspielräume. Ich habe große Hochachtung vor der Arbeit, die an Schulen unter den gegebenen politischen, finanziellen und materiellen Bedingungen geleistet wird. Aber trotzdem: Wir können das Thema nicht ausblenden. Wir müssen genau hinsehen, wo es eben doch Räume für Gestaltung gibt. Wir alle haben gemerkt, welche Folgen es für unvorbereitete Schulen hatte, wenn sie zu Coronazeiten plötzlich in das kalte Wasser von Homeschooling und digitaler Kommunikation geworfen wurden: kaum zu bewältigende Belastung für Lehrende und für die Schülerschaft Brüche und klaffende Lücken im Bildungsverlauf.
    Glück für Schüler aus digital und räumlich gut ausgestatteten, medienkompetenten Elternhäusern. Pech für Kinder, die nicht auf diese Ressourcen zurückgreifen konnten, und mit ihrem Handy und den Hausaufgaben auf sich selbst gestellt waren. Aus einem Instrument der Inklusion (welches digitale Infrastruktur eigentlich sein könnte) wird ein Instrument der Exklusion, wenn Schülerinnen und Schüler ohne Vorbereitung und kluge Rahmung sich selbst überlassen sind.
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  • Wenn ich „Digitalisierung“ sage, meine ich nicht nur Technik. Es stimmt natürlich, dass technische Ausstattung und stabiles WLAN eine wichtige Voraussetzung sind – eine Voraussetzung, die an vielen Schulen erst einmal geschaffen werden muss. Aber eine gute Digitalisierung ist viel mehr als Hardware, mehr als Laptops und Smartboards: Es geht um die Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken des digitalen Wandels. Darum, wie wir das zum Guten nutzen können. Wie wir vom reinen Konsumenten zum aktiven Gestalter unserer digitalen Umwelt werden können. Wie wir als digitale Bürger mündig und souverän agieren können. Es geht um Medienresilienz und um die Fähigkeit, sich dem digitalen Sog auch wieder entziehen zu können. Es geht um Kooperation und Zusammenarbeit. Darum, auf Augenhöhe mit anderen gemeinsam an einem Text, einem Konzept oder einem Projekt zusammenzuarbeiten. Um kritische Reflektion, Einordnung und Gewichtung von Quellen. Um Fehlertoleranz und Experimentierfreude. Dies alles sind Kompetenzen, die wir in einer digitalen Gesellschaft dringend brauchen. Und die können wir in Schulen auch unterrichten und thematisieren, ohne die Technik zur Verfügung zu haben.
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  • In der technischen Nutzungskompetenz werden die Schüler den Lehrenden immer überlegen sein. Aber in der soziokulturellen Nutzungskompetenz, da sind sie auf Begleitung und Unterstützung angewiesen. Lehrerinnen und Lehrer haben da sehr viel zu bieten, jenseits der Technik. Und die technischen Kompetenzen der Schülerschaft kann man wunderbar in den Unterricht einbinden: Es ist doch schön, auf diese Weise auch voneinander zu lernen.
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„Sollen wir jetzt etwa Goethe abschaffen, um Platz für Digitalisierung zu machen?“, wurde ich einmal von einer Lehrerin gefragt. Nein, wir sollten auf keinen Fall auf Goethe2 verzichten. Ich bin von Hause aus Germanistin, niemals würde ich sagen, dass Goethe in den Lehrplänen für die Digitalisierung weichen muss. Aber unsere Gesellschaft, unser Wissen, unsere Kultur und die Welt der Schülerinnen und Schüler besteht eben aus beidem, aus Osterspaziergang und aus Insta-Stories. Aus Anna Amalia Bibliothek und aus Wikipedia. Wir sollten darüber nicht klagen, sondern das als Schatz verstehen. Auch wenn es uns Arbeit macht und Umdenken abverlangt.

Ich lade Sie ein, sich auch an Ihrer Bildungseinrichtung an den digitalen Wandel heranzuwagen. Sicher sind Sie da schon auf einem guten Weg, haben bereits Gedanken dazu, Steuerungsgruppen und schon erste Entscheidungen getroffen. Es ist aufregend, es ist spannend, es ist neu. Es fordert uns und macht uns manchmal ratlos. Es verbindet Neues und Altbewährtes. Setzen Sie sich zusammen und nehmen Sie sich etwas Zeit. Sprechen Sie miteinander! Tauschen Sie Ihre Gedanken aus. Haben Sie Mut zu positiven Visionen. Was ist Ihre Vorstellung von einer guten digitalen Gesellschaft? Was braucht es dafür? Was wünschen Sie sich für Ihre Schülerschaft? Was wünschen Ihre Schülerinnen und Schüler sich? Ich unterstütze Sie gerne dabei, mit Lesungen, Fortbildungen, Gesprächsanlässen.3 Oder lassen Sie sich von anderen Menschen begleiten. Aber denken Sie bitte daran, dass Digitalisierung mehr ist als nur das Handhaben von Technik. Lassen Sie sich ruhig von Ihren SchülerInnen helfen.
Und fürchten Sie nicht die Kontroversen in Ihrem Kollegium. Es ist gut, auf so ein komplexes Thema wie die Digitalisierung aus unterschiedlichen Perspektiven zu schauen. Was reizt uns am Neuen? Was wollen wir bewahren? Aus der Summe dieser verschiedenen Blickwinkel können Sie dann einen klugen dritten Weg finden, den richtigen Weg für Sie und Ihre Bildungseinrichtung, der Ihren Werten und Zielen entspricht. Viel Glück dabei!


Quellen und Hinweise

1 Sabria David: Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick. Medienresilienz – wie wir glücklich werden in einer digitalen Welt. Patmos Verlag 2020. ISBN 978-3-8436-1243-2 [print & Ebook]
Dort vor allem das Bildungskapitel aus dem Praxisteil des Buches, S. 115-139.
Das Buch ist als Lektüre auch geeignet für Schülerinnen und Schüler ab ca. 16 Jahre.
Rezensionen finden Sie unter https://sabria-david.de/sehnsucht-nach-dem-naechsten-klick/

2 Über Goethes Weltliteratur-Begriff, transnationale Diskurse und was Goethe von der Digitalisierung gehalten hätte, habe ich vor einiger Zeit mit dem Komparatisten Prof. Peter Goßens gesprochen. Wir kommen zu dem Schluss: Der Dichterfürst Goethe wäre wohl ein Freund der Digitalisierung gewesen und hätte sicher auch gerne digital Hof gehalten.

3 Informationen zu Gesprächsformaten, Lehrerfortbildungen, Vorträgen und Lesungen finden Sie hier: https://sabria-david.de/medienbildung-nach-corona/

Mein aktueller Essay über „Handschriften“ (brand eins, 3. November 2022): https://www.brandeins.de/themen/zeichen-und-wunder-sabria-david/handschriften

Fotos: Sabria David. Die Anna Amalia Bibliothek in Weimar während einer Klausturtagung des Präsidiums von Wikimedia Deutschland, des Fördervereins hinter der Online-Enzyklopädie Wikipedia.

Die ehrwürdige Anna Amalia Bibliothek in Weimar

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