
Ja, ich weiß. Veränderung ist schwer. Veränderung verwirrt. Es geht nicht mehr weiter wie bisher, aber wie soll es sonst gehen?
Phasen tiefgreifender Transformation erkennt man daran, dass eine Lücke aufklafft. Was bisher funktioniert hat, funktioniert nicht mehr. Aber das Neue, so wie es in Zukunft funktionieren wird, das ist noch nicht greifbar. Genau dazwischen klafft es auf, reißt auf, in uns, in unserem Alltag, in den Arbeitsprozessen, in der Wirtschaft, in der Politik: ein Abgrund zwischen „nicht mehr“ und „noch nicht“. Das fühlt sich nicht gut an, das verunsichert, das macht Angst.
Ob uns eine Transformation gelingt, hängt aber genau davon ab, wie wir mit dieser Lücke, mit dieser Irritation, wie wir mit dieser Störung unserer Routinen umgehen.
Es gibt aus meiner Sicht drei Phasen der Transformation:
Phase 1.) Ignorieren und weitermachen.
Es wird immer mehr Energie in das Aufrechterhalten der bisherigen Strukturen, Herangehensweisen, Lebensweisen und Geschäftsmodelle gesteckt. Also: so lange wie möglich am Alten festhalten. Das haben wir lange gemacht. Ein Beispiel: Seit der Studie „The Limits to Growth“ aus dem Jahr 1972 ist klar, dass unbegrenztes Wachstum in einem begrenzten System nicht möglich ist. Trotzdem haben wir weitergemacht, die Autos sind nicht kleiner, sondern größer geworden, ebenso Energieverbrauch, Plastikmüll, CO2-Ausstoß. Nun haben wir das klamme Gefühl: Das funktioniert nicht mehr. Die Auswirkungen des Klimawandels werden greifbarer, langsam sickert es in unser Bewusstsein, dass wir so nicht weitermachen können.
Phase 2.) Irritation: die Lücke klafft auf.
Jetzt spüren wir die Lücke. Es ist ein Moment der Wahrheit und der Verunsicherung. Wir sind raus aus unserer Komfortzone und ratlos. Unsere Routinen und Autopiloten, die uns Sicherheit in konstanten Zeiten gaben, helfen uns jetzt nicht mehr. Wir müssen selber ans Steuer. Aber wohin? Und wie? In der Lücke blühen Gefühle, unangenehme Gefühle: Verunsicherung, Ohnmacht, Hilflosigkeit und Kontrollverlust. Das fühlt sich nicht gut an.
Und das ist ein heikler Moment: Wie gut halten wir das aus? Halten wir das aus, bis wir den nächsten Schritt machen können? Oder müssen wir diese Lücke so schnell wie möglich wieder zuschütten? In dieser Phase sind wir Menschen, sind Gesellschaften, sehr verletzlich und anfällig. Ob wir konstruktiv in Transformationszeiten handeln können, hängt davon ab, wie gut wir mit dieser Irritation, mit der Phase der aufklaffenden Lücke und den damit verbundenen Kontrollverlusten umgehen können. Oder ob wir es nicht aushalten und die Lücke schnell mit etwas füllen müssen. Rechtspopulistische Strömungen sind – man muss sagen: weltweit – genau darauf spezialisiert, in diese Transformations-Lücke zu fließen und die Menschen von ihren unguten Gefühlen zu „erlösen“. Statt komplexer Herausforderungen, auf die man keine Antwort hat, behauptet man Einfachheit und Kontrolle. Hauptsache, die Lücke ist zu. Autoritäre Strukturen bieten in väterlicher Güte an, das alles für uns zu regeln. Phase 1 ruft und lockt und verspricht Frieden. Globalisierung, Kriege, geopolitische Lage, Klimakatastrophen, Digitalisierung? Zu komplex! Lieber kanalisiert man alle Unsicherheiten in dem Stichwort Migration – mit dem fast rührend symbolischen Versprechen, man könne, indem man alle Grenzen schließt, sich alle Probleme der Welt einfach so vom Hals halten. Tür zu, fertig. Die Politik zieht in Hilflosigkeit nach, weil es einfacher ist, sich am Thema Asyl abzuarbeiten als Lösungen für eine stabile Gesellschaft und Wirtschaft in schwankenden Zeiten auszuhandeln. Politik als Übersprungshandlung.
Aber genau das bedeutet Transformation: Die Irritation auszuhalten. Es zu ertragen, dass wir grade keine Antworten haben, bis wir neue Antworten gefunden haben. Diese Lücke ist der notwendige Schritt: Sie zwingt uns, anzuerkennen, dass es so nicht mehr weiter geht, dass wir etwas ändern müssen. Sie zwingt uns, nach vorne zu schauen und erst so können wir uns der Gestaltung des Neuen in der Zukunft zuwenden. Leicht wird es nicht, wer macht das schon freiwillig. Der Schmerz, der in der Lücke aufreißt, ist notwendig, damit wir überhaupt handeln. Wir müssen ihn aushalten, ruhig bleiben, uns den Herausforderungen und dem Durcheinander zuwenden und unseren Blick auf die Zukunft richten.
Phase 3.) Neugestaltung.
Wie gesagt, es wird nicht leicht. Aber wir kommen da nur hin, wenn wir in Phase 2 nicht steckenbleiben oder falsch abbiegen. Wir haben viel zu tun. Wir müssen sehr viel neu definieren, sehr viel anders machen, verbessern und den neuen Bedingungen anpassen. Wir haben einen Verwaltungsapparat, der nicht auf Veränderungen eingestellt ist. Unsere Prozesse sind umständlich und langwierig. Wir müssen Räume für Neues öffnen, Wachstum neu definieren und die Weichen für eine strukturelle Nachhaltigkeit stellen. Wir sollten kluge Antworten auf Digitalisierung und den Hunger globaler Tech-Konzerne finden. Wir müssen uns den öffentlichen digitalen Raum zurückerobern, unsere Industrie zukunftssicher machen, unsere innere und äußere Sicherheit neujustieren, umringt von China, Russland, USA.
Turbulenzen und gesellschaftliche Konflikte sind natürlich, auch sie sind Kennzeichen einer Transformation. Sie entstehen, weil die drei Phasen der Transformation gleichzeitig nebeneinander existieren und sich gegenseitig verhaken. Trump (Ich will Grönland) und Putin (Russland ist ein hungriger Bär, der aus dem Winterschlaf erwacht) sind, so denke ich, mit großer Entschlossenheit in Phase 1. Im Falle von Amerika gedeckt durch den offensichtlichen Wunsch von vielen Wählern. Unsere Gesellschaft schwimmt in Phase 2, manche locken uns zurück in Phase 1, manche rufen schon von Phase 3 herüber, „Kommt her“. Kein Wunder, dass grade viel Durcheinander ist. Aber nur Mut!
Ich wünsche mir, dass uns diese Transformation gelingt. Ich wünsche mir, dass wir den Mut haben, die Welt zu sehen, wie sie ist. Ich wünsche uns Kraft zur Gestaltung dessen, was jetzt kommt. Ich will uns handeln und gestalten sehen, ruhigen Blickes, obwohl um uns herum alles schwankt und bebt. Dass wir uns hilflos, ratlos und verunsichert fühlen ist ganz normal. Das ist Teil des Prozesses. Ich wünsche uns, dass wir das aushalten können. Ich wünsche uns, dass wir den Herausforderungen von Phase 2 nicht ausweichen. Dass wir die Lücke und Verunsicherung lange genug aushalten, um zu Phase 3 übergehen zu können. Dass wir unsere Kraft, unsere Kreativität, Neugierde und Energie, unsere Erfahrung und unser Know-How in Phase 3, in die Gestaltung unserer Zukunft stecken können. Das wünsche ich mir.
Mit dem Aushalten der Irritation beginnt die Veränderung.
Nachlese:
Was bedeutet das ganz konkret und im Alltag? Wie können wir gesellschaftliche Veränderungen wahrnehmen und einüben? Über die kleinen und konkreten Gestaltungsräume im Alltag schreibe ich in den Essays in meinem aktuellen Buch „Zeichen und Wunder“, z.B. in den Stücken „Kehren Sie um“ und „Die Welt als Großbaustelle“.
Mehr dazu hier: https://sabria-david.de/buecher/
Zu dem Thema „Transformation gestalten. Strategie & Finanzierung“ war ich zu dieser Podiumsdiskussion des Wirtschaftstalk eingeladen: https://www.wirtschaftstalk.nrw/index.php?f=thema&id=66