Unsere Renaissance

Wie wird unsere Gesellschaft nach Corona aussehen?

Sandro Botticelli: Primavera, 1482/1487. Das Gemälde nimmt Bezug auf „De rerum natura“ von Lukrez.
Foto: creator QS:P170,Q5669 Livioandronico2013, Primavera (Botticelli), Ausschnitt, CC BY-SA 4.0

Von einem „Ruck“ spricht Stephen Greenblatt in seinem Buch über den Beginn der Renaissance, von einer „unerwarteten Bewegung“, einem „zufälligen Richtungswechsel“, der die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit eingeleitet hat. Für ihn war das Wiederauftauchen eines antiken Manuskripts im Jahr 1417 solch eine Initialzündung für die Moderne. Das Gedicht „De rerum natura“ von Lukrez eröffnete mit seinen Gedanken über die Natur und die Liebe neue Horizonte und beflügelte die Humanisten.

Ein solches „plötzliches Aus-der-Richtung-Geraten, eine unvorhersehbare Abweichung vom eingeschlagenen Weg“ war sicher auch die Pest, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts in Europa wütete und Millionen Menschen hinwegraffte. Rund ein Drittel der damaligen Bevölkerung Europas fielen dem Schwarzen Tod zum Opfer, ganze Landstriche waren entvölkert, Familien verwaist, das öffentliche Leben lag brach, die Wirtschaft am Boden. Die Welt war nicht mehr, was sie vorher war.
Manche Forscher sehen in diesem radikalen Ereignis eine wichtige Voraussetzung für das Ende des Mittelalters. Das mittelalterliche Welt- und Menschenbild sei dadurch in eine tiefe Krise geraten und habe den Weg für ein neues Menschenbild bereitet, für den Humanismus, die Aufklärung, die Renaissance. Eine Neu- und Wiedergeburt, ein Entwicklungssprung, der nur auf Trümmern entstehen konnte. Eine neue Perspektive auf die Welt durch das Ende der alten.

Michael Wolgemut: Tanz der Gerippe, 1493.
Danse macabre, inspiriert vom „Schwarzen Tod“

Ob wir nun die vergleichsweise liebliche Variante eines Gedichts auf die Venus als Initialzündung für die Renaissance ansehen oder den Ausbruch einer tödlichen Seuche: Es ist das Aus-den-Fugen-Geraten einer „Alten Welt“, die das bisherige hinwegfegt und den Weg frei macht für „Das Neue“.

Unsere Renaissance nach Corona

Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 ist auch unsere Welt aus den Fugen geraten. Auch wir sind plötzlich aus der Richtung geraten. Auch für uns ist nichts mehr wie es vorher war. Die wirklich spannende Frage der letzten Monate ist also diese: Was wird unsere Renaissance sein? Was wird bei uns neugeboren? Welche Lehren ziehen wir?
Was macht das mit uns? Und vor allem: Was machen wir damit?

Wir haben uns die Corona-Pandemie, die unser ganzes gewohntes Leben in Frage stellt, nicht ausgesucht. Die entscheidende Frage ist aber: Was fangen wir damit an? Was lassen wir nach Corona anfangen? Wir sollten schon jetzt, noch während Fallzahlen, Abstandsregeln und Maskengebote unsere Aufmerksamkeit einfangen, unseren Blick heben und an die Zeit danach denken. Wo wollen wir hin? Was wollen wir ändern?

Zeit für Neues. Eine gute und resiliente digitale Gesellschaft

Für mein Fachgebiet, den digitalen Wandel, ist diese Zeit eine kostbare – wenn auch schmerzliche – Feldstudie. Für alle Menschen, die privat oder beruflich mit digitalen Medien in Kontakt kommen ebenso. Wir sollten nichts vergessen, was sich uns in dieser Lernphase jetzt zeigt. Deutschland war in punkto Digitalisierung bisher ein Entwicklungsland. Wir haben nun die Chance, das zu ändern.

Was uns bisher gebremst hat, war die Trägheit unserer Systeme und Prozesse. Eine weitere Bremse war die Hemmschwelle vieler, sich überhaupt mit dem Thema Digitalisierung auseinanderzusetzen. Seit dem Corona-Crashkurs in Digitalisierung in Schule, Beruf und Privatleben ist diese Hemmschwelle – notgedrungen – gefallen. Und wie eine Sense ist die COVID-Pandemie auch durch unsere Systeme und Prozesse hindurchgefegt.

Das ist – so furchtbar es ist – auch eine Chance. Nutzen wir diese Chance! Wir sollten diese Gelegenheit auf keinen Fall verpassen. Schon jetzt sehen wir, was für Veränderungen plötzlich möglich sind. Nutzen wir den Freiraum und den Aufbruch für etwas Gutes. Für etwas, was uns gut tut. Für etwas was wir brauchen, um unsere Zukunft gut gestalten zu können. Nutzen wir die Chance, um zu definieren, wie wir eine gute digitale Gesellschaft haben wollen. Nutzen wir die Zeit, um den digitalen Wandel zu unserer Sache zu machen.

Wir befinden uns grade historisch an einer neuralgischen Stelle: Wir sollten aktiv werden, bevor wir alle wieder der Versuchung des Business as usual erliegen. Es gibt keinen besseren Moment als jetzt, um unser Wunschbild von einer digitalen Gesellschaft zu zeichnen. Wir haben in den letzten Wochen der Notfall-Digitalisierung erfahren, was geht und was nicht geht. Beides sind wichtige Informationen. Mit dem Wissen können wir uns zusammensetzen und klären: Was wollen wir? Wie wollen wir es? Welche Rahmenbedingungen brauchen wir, um das zu schaffen?

Resilienz bedeutet für eine Gesellschaft auch, mit Herausfoderungen wie der Coronakrise umgehen zu können. Sie in etwas Gutes umzuwandeln zu können und sich immer wieder neu zu erfinden. Wir könnten auch sagen: Resilienz ist die Fähigkeit zu immerwährender Renaissance.

Aus meiner Sicht können wir aus der vergangenen Zeit folgende Lehren ziehen:

  • Wir brauchen Zugangs- und Bildungsgerechtigkeit. Je mehr sich Wissen, Kommunikation und Bildung in den digitalen Raum verlagern, um so wichtiger wird es, dort niemanden zurückzulassen.
  • Mediensouveränität und digitale Kompetenz sind ein wichtiger Schlüssel für die gesellschaftliche und politische Bildung, auch zum Umgang mit Verschwörungstheorien und Fake News
  • Im Arbeitsumfeld sollten Erwartungen und Prozesse mit dem Fokus der Digitalisierung neujustiert werden
  • Gemeinsinn und Solidarität zu stärken ist wichtig für eine resiliente Gesellschaft
  • Kultur in ihrer identitätstiftenden und verbindungschaffenden Funktion verstehen
  • Den öffentlichen Raum als sozialen Ort der Begegnung fördern
  • Ehrenamt, zivilgesellschaftliches Engagement und Nachbarschaftshilfen stärken
  • Globalisierte Wirtschaftsprozessse  sollten nicht von gesellschaftlichem Nutzen entkoppelt sein
  • Gesellschaftliche Kollateralschäden sollten bei Entscheidungen mitberücksichtigt werden.

Wir wissen nun, dass wir alle in einem Boot sitzen, und sollten uns verstärkt damit befassen, was uns als Gesellschaft zusammenhält. Gerade die Reaktionen auf die Coronakrise haben gezeigt, wie selbstverständlich Gemeinsinn und der Wunsch nach Zusammenhalt und dem gemeinsamen Finden von Lösungen waren. Das ist ein guter Anfang.

Zu dem Thema gibt es hier bald mehr: https://shop.verlagsgruppe-patmos.de/die-sehnsucht-nach-dem-naechsten-klick-011243.html


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